25.04.2024

Stadtarchiv in Privatbesitz: War Hitler doch einmal in Schriesheim?

Ein Foto aus Menges’ Sammlung zeigt Adolf Hitler bei seiner Durchfahrt durch Schriesheim. Foto: Dorn
Ein Foto aus Menges’ Sammlung zeigt Adolf Hitler bei seiner Durchfahrt durch Schriesheim. Foto: Dorn
Friedrich Menges hat unzählige Materialien zu Schriesheims Geschichte gesammelt. Foto: Dorn
Friedrich Menges hat unzählige Materialien zu Schriesheims Geschichte gesammelt. Foto: Dorn
So sah 1983 die "Mathaisemarkt-Rundschau", die Festbeilage der RNZ, aus – großformatig und in Schwarz-weiß. Foto: Dorn
So sah 1983 die "Mathaisemarkt-Rundschau", die Festbeilage der RNZ, aus – großformatig und in Schwarz-weiß. Foto: Dorn
In diesem Ratsprotokoll von 1967 wurde die Ausdehnung des Mathaisemarkts auf ein zweites Wochenende beschlossen. Foto: Dorn
In diesem Ratsprotokoll von 1967 wurde die Ausdehnung des Mathaisemarkts auf ein zweites Wochenende beschlossen. Foto: Dorn
Viele Prospekte und Festschriften hat Menges in seinem Besitz. Foto: Dorn
Viele Prospekte und Festschriften hat Menges in seinem Besitz. Foto: Dorn
Farbenfroh und mit Ansteck-Clip: die Krawatten der Firma Feller, die von 1947 bis 1996 in Schriesheim produzierte – ein Verkaufsrenner der fünfziger Jahre. Foto: Dorn
Farbenfroh und mit Ansteck-Clip: die Krawatten der Firma Feller, die von 1947 bis 1996 in Schriesheim produzierte – ein Verkaufsrenner der fünfziger Jahre. Foto: Dorn

Friedrich Menges hat jede Menge Schriesheimer Dokumente gesammelt. Ein besonderes Foto wirft Fragen auf.

Von Micha Hörnle

Schriesheim. Das vielleicht zeitgeschichtlich brisanteste Foto zeigt Friedrich Menges erst zum Schluss: Hitler in Schriesheim. Man erkennt auf diesem Abzug den Diktator am OEG-Bahnhof, umringt von einer begeisterten Menge mit hochgerecktem rechtem Arm. War er also doch hier? Eher auf der Durchreise, wie eine Nachfrage bei Stadtarchivar Dirk Hecht ergab.

Denn der badische Ministerpräsident Walter Köhler (1897 bis 1989) stammte aus Weinheim und hatte die Stadt als Ortsgruppenleiter zu einer frühen Hochburg der NSDAP gemacht. Deswegen trat der Diktator gelegentlich bei Kundgebungen des alten "Kampfgenossen" Köhler – der war seit 1925 Mitglied in der NS-Partei – in Weinheim auf. Wann das Bild aufgenommen wurde, ist nicht zu ermitteln.

Aber Menges hat noch eine ganze Menge anderer Schätze in seinem Büro, die immer wieder auf die "große Politik" Bezug nehmen. Wie ein Bildband zum Bau der Reichsautobahn Frankfurt-Heidelberg von 1935, von der Schriesheim eigentlich gar nicht berührt war – die Bergstraßen-Autobahn (A5) kam erst 35 Jahre später.

Und doch zeigt ein Foto aus dem Buch ein Bergstraßen-Panorama mit der Strahlenburg. Zeitensprung in die frühen achtziger Jahre: Menges verwahrt den Aufkleber, wohl von einer kirchlichen Friedensinitiative, "Schriesheim – atomwaffenfreie Zone" – aus der Zeit, als in der Bundesrepublik die Debatte um die Nato-Nachrüstung tobte.

Aber auch viel genuin Schriesheimerisches findet sich in Menges Konvolut – gerade zum Mathaisemarkt: wie einen Zeitungsartikel von 1950, in dem für den Besuch des ersten Fests nach dem Krieg geworben wird.

Dieses war damals noch vor allem ein dreitägiger Viehmarkt, wie Bürgermeister Georg Rufer im Jahr darauf in der RNZ schrieb: "Für den Rindvieh- und Pferdemarkt haben sich viele Händler angemeldet. Und wenn auch infolge der geringen Einnahmen aus Obst und Tabak das Geld zur Mangelware geworden ist, wird doch in manchem Stalle nach dem Markt eine Erneuerung und Ergänzung im Viehbestand festgestellt werden können."

Menges hat auch noch die "Mathaisemarkt-Rundschau" der RNZ von 1983 aufgehoben – auch ein Zeitdokument: Denn in ihr wird der Fass-Schnitzer Karl Schmitt aus der Oberstadt vorgestellt, von dem auch die Straßenschilder auf dem Branich stammen.

Damals gab es auch noch die Tabakprämierung, sieben Pflanzer zählte man in der Stadt. Redner auf der Mittelstandskundgebung war Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, samstags stieg der legendäre "Schriesheimer Abend" mit Peter Riehl samt Gast-Star Joy Fleming im Festzelt.

Zu dieser Zeit war der Mathaisemarkt längst auf zwei Wochenenden ausgedehnt. Wie das überhaupt kam, darüber informiert eine Niederschrift der Ratssitzung vom 13. Dezember 1968: Die Winzergenossenschaft und das Schlossweingut Grüber hatten den Antrag gestellt, das Fest 1968 erstmals über ein zweites Wochenende zu verlängern, weil die Fastnacht direkt vor dem ersten lag.

Dem Antrag, so notierte Ratsschreiber Wendelin Morast, wurde stattgegeben, das zweite Wochenende gebe es "versuchsweise" (unterstrichen). Aber vor allem: "Der Stadt dürfen keine weiteren Kosten entstehen."

Gerade aus dem kirchlichen Umfeld hat Menges viele Festschriften gesammelt – wie die zum 200. Kirchenjubiläum 1949. Im Jahr zuvor waren die im Krieg eingeschmolzenen Glocken wieder geweiht worden (auch wenn sie aus Stahl waren und für einige zu "hart" klangen). Die 1788 gebaute Stumm-Orgel wurde für 3000 Mark von der Firma Walker 1949 instandgesetzt.

Knapp 30 Jahre später, 1976, musste eine neue her, worüber ein Prospekt der Kirchengemeinde informiert: Die Schauseite der alten Stumm-Orgel blieb unangetastet, dahinter baute die Firma Weigele 1977 eine neue Orgel, die 2014/15 beim Kirchenumbau von der Firma Jäger & Brommer renoviert und erweitert wurde (und seitdem Weigele-/Jäger& Brommer-Orgel heißt).

Einen weiten Bogen spannt hingegen die 50-seitige Broschüre "400 Jahre Evangelische Gemeinde Schriesheim" von 1956, geschrieben von Hermann Brunn und Pfarrer Reinhard Berggötz. Darin erfährt man etliches, was heute kaum jemand mehr weiß: Dass das in Mannheim ausgebombte Institut Sigmund zunächst im Gemeindehaus an der Kirche untergebracht war, bis es seine neuen Gebäude auf dem Branich beziehen konnte.

Berggötz hielt auch bei der 1200-Jahr-Feier Schriesheims am 12. Juli 1964 die Festpredigt, die als Broschüre erhalten ist: "Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn!" In diesem Jahr war Schriesheim wieder zur Stadt geworden.

Besonders charmant und sehr weltlich ist die Ansteck-Krawatte der Schriesheimer Firma Feller. Edmund und Lore Feller aus Plochingen hatten 1934 zusammen mit dem Ladenburger Wilhelm Albers eine Schlipsfabrik gegründet, nach dem Krieg nahm 1947 Lore Feller im "Schwarzen Adler" die Produktion wieder auf, 1959 siedelte die Firma in die Mannheimer Straße um: Verkaufsrenner war der "Eloka"-Clip-Schlips.

1996 kam das Aus für die Fertigung in Schriesheim, das Firmenareal wurde 1997 mit einem großen Wohnhaus neu bebaut. Menges’ farbenfrohes Exemplar hingegen trägt keinen Feller-Aufnäher, sondern ist wohl ein Kaufhausartikel.

Und woher hat er das alles? Vieles hat er aufbewahrt, manches fand er bei Haushaltsauflösungen von Bekannten. Viel gab er auch schon ans Stadtarchiv weiter. Er findet: "Eigentlich hätte ich noch viel mehr sammeln sollen, aber es mangelte an Platz."

Auch wenn man es vielleicht nicht glauben kann, weil man Menges so oft in der Stadt sieht: Er ist gar kein Schriesheimer: Er stammt vom "Winterhauch", dem im Wortsinne kalten Odenwald rund um dessen höchsten Berg Katzenbuckel.

Seine Mutter heiratete 1956 nach Schriesheim, und so kam er mit sechseinhalb Jahren an Ostern hierher: "Das war nicht so einfach, ich kannte ja keinen." Hier wurde er eingeschult, und hier engagierte er sich auch gleich bei der Jungschar, wo er später Jugendleiter wurde – und sein christliches Engagement begründete.

Seine Lehre machte er in Heidelberg, im Horten-Kaufhaus am Bismarckplatz, später ging er zu Tengelmann nach Viernheim, danach zu einem Mannheimer Großhandel. Von 1972 bis 1975 ließ er sich zum Diakon ausbilden, mit Schwerpunkt Jugendarbeit. Die ersten fünf Jahre arbeitete er in Eberbach, wo er das Jugendwerk gründete: "Mit den Leuten von damals treffe ich mich immer noch."

1976 heiratete er seine Frau Christel, eine Schriesheimerin – und zusammen sollte es vier Jahre später wieder zurück an die Bergstraße gehen. Doch in Eberbach begann seine zweite Leidenschaft, die für die Sozialdemokratie: Noch während seiner Diakon-Ausbildung trat er 1974 in die SPD ein, hier kandidierte er 1979 für den Gemeinde- und den Kreisrat. Aber erst in seiner Schriesheimer Zeit sollte ihm der Einzug ins Rathaus gelingen: Fünfzehneinhalb Jahre, von Januar 1989 bis Juli 2004, war er am Ratstisch, die großen Themen dieser Zeit waren die Altstadtsatzung, der Kanzelbachsteg, die Madonnenberghütte und natürlich das Waldschwimmbad. Dass er nicht mehr wiedergewählt wurde, grämt ihn heute nicht mehr, aber er hat eine Erklärung: "Ich war ja ein Versicherungsmensch. Das ist vielen nicht so angenehm."

Der Weg zu seiner Versicherung, der evangelisch orientierten Bruderhilfe, war allerdings voller Windungen, denn nach seiner Rückkehr an die Bergstraße war er erst einmal Bezirksjugendreferent im Dekanat Ladenburg-Weinheim, zudem machte er eine Heimleiterausbildung bei der Diakonie.

Zu dieser Zeit saß er bereits im Kreistag, und als sich die Schwierigkeiten im Schriesheimer Kreisaltenheim häuften, sagte Landrat Jürgen Schütz zu ihm: "Mach’ Du dort den Heimleiter." Und das war er eineinviertel Jahre.

Als 1994 Sparmaßnahmen durchgedrückt wurden, kündigte er: "Es war schwer, eine Stelle zu bekommen, ich hatte keine Chance." Also wurde er selbstständig: erst als Verkäufer bei "Südwest-Kamin", dann im Außendienst bei "Vorwerk", doch "das wollte ich nicht bis zur Rente machen".

Also wechselte er als Versicherungsberater zur "Bruderhilfe", bei der er ja selbst Mitglied war – und machte mit 49 Jahren noch die Ausbildung zum Versicherungskaufmann. Das war er 16 Jahre lang – das Büro war in seiner Wohnung in der Alfred-Herbst-Straße – bis zur Rente 2015: "Ich konnte vielen Leuten helfen. Die hatten oft unmögliche Versicherungen. Und ich habe versucht, immer ehrlich zu sein." Noch heute organisiert er sich ehrenamtlich in der Kirche, den Naturfreunden und der SPD.

Sein großes Interesse für die Geschichte im Kleinen und im Großen zeigt sein Einsatz für die Plakette, die Anton Geiß gewidmet ist. Der Sozialdemokrat und erste Staatspräsident Badens nach dem Ersten Weltkrieg verbrachte seine letzten Lebensjahre in Schriesheim.

Von den Nazis seiner Pension beraubt, zog er erst 1933 mit seiner kranken Frau Karolina ins Kreisaltenheim, nach deren Tod 1935 in eine kleine Wohnung in der Heidelberger Straße 14, in der er am 3. März 1944 starb. Auf Betreiben Menges’ wurde am 30. April 2016 eine Gedenktafel enthüllt. Und schließlich, so beschloss es unlängst der Gemeinderat, wird der Platz vor dem Alten Rathaus ("Marktplatz") nach Anton Geiß benannt.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung