05.05.2024

Sinnentstellendes Video sorgt für Hasswelle gegen Fadime Tuncer

Die Landtagsrede der grünen Abgeordneten zu Freibad-Übergriffen schnitt ein AfD-Abgeordneter neu zusammen. Es folgten 5000 teils hasserfüllte Social-Media-Kommentare.

Von Micha Hörnle

Schriesheim/Stuttgart. Die grüne Landtagsabgeordnete des Wahlkreises Weinheim, Fadime Tuncer aus Schriesheim, ist momentan Zielscheibe mehrerer Tausend, meist gehässiger Facebook-Kommentare. Nun überprüft die Staatsanwaltschaft Stuttgart, ob diese als beleidigende oder volksverhetzende Aussagen strafbar sind. Tuncer erklärte gegenüber der RNZ, ein kurzes Video ihrer Landtagsrede wurde gezielt zusammengeschnitten, um Stimmung gegen sie zu machen. Ansonsten zeigte sie sich zwar schockiert angesichts der Hasswelle, will aber an ihrer Position und ihrem Leben nichts ändern.

Ausgangspunkt war eine Rede Tuncers, die sie am 20. Juli in einer aktuellen, von der AfD beantragten Landtagsdebatte zum Thema "Sommer, Sonne, Schlägereien: Geht die innere Sicherheit baden?" hielt. Anlass dafür waren die Freibadschlägereien im Frühsommer, vor allem in Berlin, aber auch in Mannheim. Nach Meinung der AfD seien dafür in erster Linie junge Flüchtlinge verantwortlich, die konsequent abgeschoben werden müssten, wie AfD-Landtagsabgeordneter Daniel Lindenschmid meinte.

Tuncer zitierte in ihrer Rede einen Artikel, den die Journalistin Annabelle Krause am 15. Juli in der Waiblinger Kreiszeitung veröffentlichte: "Auch bei Hitze gehe ich nicht ins Freibad – ich wurde zu oft sexuell belästigt." Darin schrieb Krause – und das las Tuncer auch vor: "In manchen Medien wird der Eindruck erweckt, dass es sich bei den Tätern häufiger um Migranten handele. Bei mir waren es aber eher ,typisch deutsch’ aussehende weiße Männer, Mitte 20 oder ab Mitte 40. Letztere sahen wie ganz normale Familienväter aus. Bei Belästigung durch diese Personen wurde in meinem Fall öfter weggesehen als bei Tätern, die in das Bild mancher Medien oder Stammtisch-Vertreter passen."

Tuncer redete etwa zehn Minuten lang, doch Daniel Lindenschmid, der als erster Redner die Debatte eröffnet hatte, schnitt aus ihr ein zweiminütiges Video zusammen – es bestand vor allem aus Zitaten des Zeitungsartikels –, nannte es "Fadime Tuncer von den Grünen erklärt die Situation in unseren Freibädern und was wir dagegen unternehmen sollen", stellte das am 24. Juli auf Facebook – und seither wurde es über 5000 Mal kommentiert.

Die überwiegende Mehrheit äußerte sich extrem kritisch zu Tuncers Beitrag, andere offen beleidigend oder gar volksverhetzend. So heißt es in einem Kommentar: "Das grüne Dreckspack verharmlost alles. Erst lassen sie diese Verbrecher herein, schenken ihnen unsere Steuergelder und belästigen dafür deutsche Bürger. Ich habe noch nie etwas mit den Grünen anfangen können und fand sie stets zum Kotzen. Dreckspack verrecke!"

Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart. Wie Erster Staatsanwalt Aniello Ambrosio auf RNZ-Anfrage bestätigt, werden die ihr zugänglichen Kommentare "auf ihre strafrechtliche Relevanz überprüft", es gebe einen Anfangsverdacht gegen Unbekannt wegen Volksverhetzung und Beleidigung, die Auswertung liefe noch. Seine Behörde sei von sich aus tätig geworden, es habe aber auch eine Person Strafanzeige gestellt – das war aber nicht Tuncer selbst, wie sie beteuert.

Wie lange noch ermittelt wird, sei nicht absehbar, aufgrund der vielen Kommentare werde das "noch einige Zeit brauchen". Dass es bereits einen ähnlichen Fall von extrem vielen Hasskommentaren gegeben habe, sei Ambrosio nicht bekannt, aber man führe da keine Statistik.

Übrigens: Nur gegen die Facebook-Kommentatoren werde gerade ermittelt, nicht aber gegen den Landtagsabgeordneten Lindenschmid, der Tuncers zusammengeschnittene Rede veröffentlicht hatte. Tuncer – die in der Türkei geboren wurde, in Mannheim aufwuchs und sei über 20 Jahren deutsche Staatsbürgerin ist – erklärt sich die aggressive Hasswelle im Internet damit, dass sie sich als Frau mit Migrationshintergrund zu sexueller Belästigung in Freibädern geäußert habe.

Wobei ihr wichtig ist, dass sie in ihrer Rede keinesfalls die Vorkommnisse in den Freibädern verharmlosen wollte: "Ich lehne jede Art von Gewalt ab, egal, von wem sie kommt." Aber man könne doch nicht gleich jeden mit ausländischen Wurzeln unter Generalverdacht stellen.

Deswegen war es ihr wichtig, die Journalistin der "Waiblinger Kreiszeitung" zu zitieren. Aber genau das habe offenbar die AfD so in Wallung gebracht – eben ein Erfahrungsbericht, der nicht in deren Weltbild passte. Sie findet: "Man sollte nicht auf die Herkunft fokussieren, sondern auf den Täter."

Außerdem – aber das kommt nicht in Lindenschmids zusammengeschnittenen Video vor – habe sie auch positive Beispiele genannt, wie Gewalt und sexuellen Belästigungen in Freibädern begegnet werden könnte: beispielsweise die Aktion "Cool am Pool" im Stuttgarter Raum, wo es feste Ansprechpartner in brenzligen Situationen gebe.

Es hagelte aber nicht nur wegen des Inhalts der Tuncer-Rede gehässige Kommentare, auch wegen einiger Versprecher ("Kann diese Frau noch nicht einmal einen Text fehlerfrei ablesen?"). Tuncer erklärt das damit, dass es vonseiten der AfD-Fraktion ständige Zwischenrufe und Lacher gab: "Das war total unangenehm. Ich wurde laufend gestört, und es wurde mehrfach dazwischen gebrüllt." Tatsächlich war, wie man in der Landtagsmediathek nachsehen und im Landtagsprotokoll nachlesen kann, der Saal besonders unruhig während ihrer Rede.

Fadime Tuncer hielt die Hasskommentare gegenüber ihrer Familie zunächst zurück, mittlerweile sind ihr Mann und ihre beiden Kinder informiert; das Landeskriminalamt gab ihnen Tipps, wie in dieser Situation zu reagieren sei, zum Beispiel, sich im Moment mit Nachrichten in den sozialen Medien zurückzuhalten. Zumal ein Unbekannter gerade erst gleich zweimal ein Instagram-Konto auf ihren Namen eröffnet hat – ohne ihr Wissen.

Und doch will sie weiter "so normal wie möglich und nicht etwa in Angst leben". Auch vonseiten der grünen Landtagsfraktion kamen Angebote, sie zu unterstützen. Ansonsten zeigt sie sich unbeirrt: "Ich will mich von diesen Kommentaren nicht beeinflussen lassen." Das gilt auch für die Themen, zu denen sie sich äußert: "Natürlich löst das bei manchen Aggressionen aus, wenn eine Frau mit Migrationshintergrund über Frauenthemen wie Belästigungen in Freibädern spricht. Soll ich mich jetzt nur noch zur Wirtschaft äußern? Aber ich fürchte, man würde bei jedem Thema Front gegen mich machen."

Rassistische Kommentare sind für Tuncer nichts Neues: Als sie vor zwei Jahren Bürgermeisterin ihrer Heimatstadt Schriesheim werden wollte, gab es während des Wahlkampfs gelegentlich Bemerkungen, man wolle keine Türkin an der Stadtspitze sehen. Nach ihrer knappen Wahlniederlage – sie hatte 42 Prozent im ersten Wahlgang erhalten, der parteilose, aber "bürgerliche" Kandidat Christoph Oeldorf 56 Prozent – erklärte sie das der RNZ gegenüber so: "Da gab es eine Angst vor der ,Fremden’, vor der Frau, Muslima und einer mit Migrationshintergrund. Ich hätte gedacht, Schriesheim wäre da schon weiter." Kurz danach rückte die heute 54-Jährige in den Landtag nach, nachdem der langjährige Weinheimer Abgeordnete Uli Sckerl am 14. Februar 2022 verstorben war.

Info: Tuncers Beitrag der Landtagsdebatte kann man sich unter www.rnz.de/tuncer-rede anschauen. Hier ist auch die gesamte Debatte zu sehen.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung